Es brennt – Politische Bildung hat Feuerwehrfunktion

Gesellschaftliche Krisen führen regelmäßig dazu, dass Politische Bildung eine gewisse Konjunktur hat. Erstmals wurde an sie diese „Feuerwehrfunktion“ in der alten Bundesrepublik Ende der 50er Jahre adressiert, nachdem es Übergriffe auf jüdische Friedhöfe gab. Von daher sind „unsichere“ Zeiten, wie wir sie momentan erleben, sowohl Anlass als auch Herausforderung für Politische Bildung.

Ein Bericht von Martin Becher (Leiter der Projektstelle gegen Rechtsextremismus und Geschäftsführer des Bayerischen Bündnis für Toleranz) und Sindy Winkler (Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Projektstelle gegen Rechtsextremismus)

Ebenso bedeutsam für die Praxis politischer Bildung ist, wie komplex und hochdifferenziert Politik heute stattfindet. Wer einmal mit einem Teenager die Tagesschau angesehen hat, kann dies vermutlich nachvollziehen – richtig verstehen können Heranwachsende (oder politisch wenig interessierte Erwachsene) die Tagesschau wohl erst, wenn sie ca. ein Jahr lang täglich die Nachrichten verfolgt haben. Hinzu kommt, dass in einer Zeit der multiplen, sich wechselseitig verstärkenden und dynamisierenden Krisen und der zunehmenden Vielfalt an ausdifferenzierten Perspektiven die Zumutungen der modernen Gesellschaft an den/die Einzelne*n kaum mehr zu bewältigen sind. Viele flüchten sich dann entweder in ihr privates Refugium oder in die (digitale) Wut – was erkennbar keine guten Ausgangsbedingungen für mögliche Lernprozesse im Rahmen politischer Bildung sind. Innerhalb unserer AEEB müssen wir leider festhalten, dass der Stellenwert politischer Bildung ausweislich der Statistik nicht besonders hoch ist und auch nicht unbedingt wächst. Die Finanzierungsstrukturen der Erwachsenenbildung sind oft nicht förderlich für die Politische Bildung, obwohl es im neuen EBFöG des Freistaats erste positive Veränderungen gibt. Evangelische Erwachsenenbildung ist eher persönlichkeitsorientiert, und die verstärkte Anbindung an kirchliche Strukturen in den letzten Jahren hat einen gesellschaftsbezogenen Blick zusätzlich in den Hintergrund gedrängt.

Im Folgenden stellen wir dar, welche konkreten Antworten in Form von veränderten Angeboten sich in unserer Praxis im Bayerischen Bündnis für Toleranz in Bezug auf diese Ausgangssituation ergeben haben – ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit.

Begegnungs- und Perspektivwechselformate: Raus aus der Blase

Obwohl wir in einer Zeit leben, in der es freien Zugang zu jeglicher Information gibt und unser Wissen so groß ist wie nie, gibt es einen frappierenden Befund: jenseits unseres sozialen Milieus, unserer „Community“, unserer Blase wissen wir sehr wenig voneinander. Verstärkt wird diese Entwicklung durch die hohe Bedeutung von Zugehörigkeit und Identität in den politischen Diskursen. Es scheint, als ob das viele Reden über Diversity nur noch zum nebeneinander, jedoch nicht mehr zum miteinander Leben und Reden führt, vom gemeinsamen gesellschaftlichen und politischen Engagement ganz zu schweigen. Diese Schließung gesellschaftlicher Teilbereiche wurde in den vergangenen Jahren von vielen Programmen aufgegriffen, insbesondere im Bereich des interreligiösen Dialogs/ Trialogs. Geistliche unterschiedlicher Religionen gehen gemeinsam in Schulen, der Zentralrat der Juden nannte seine Vorhaben erst „Rent a Jew“ und dann „Meet a Jew“.

Beim Bündnis für Toleranz bringen wir derzeit an vielen Orten die jüdischen Gemeinden mit der jeweiligen Stadtöffentlichkeit ins Gespräch. In World-Cafés schildern Gemeindemitglieder ihr privates und gläubiges Leben sowie ihre Wahrnehmung gesellschaftlicher Fragen. Und viele nicht-jüdische Menschen kommen und hören interessiert zu – und bleiben dann noch stundenlang nach dem eigentlichen Veranstaltungsende im Gespräch. Ähnliche erste Erfahrungen haben wir auch mit dem Landesverband der Sinti und Roma gemacht. Diese Begegnungsformate nennen wir „Perspektivwechsel“. Erstmalig angewandt haben wir das Konzept des Perspektivwechsels in einem ganz anderen Kontext: wir bringen Polizist*innen mit engagierten Menschen zusammen, die gegen Nazis auf die Straße gehen. Wer sich auf diesen Blickwechsel einlässt, lernt eine ganze Menge, die wechselseitige Verblüffung ist mit Händen zu greifen.

Verbindung politischer Bildung mit der Vermittlung von Fertigkeiten: Rein ins Leben

Politisches Wissen bekommen, ein ausgeprägtes politisches Urteilsvermögen erhalten oder die Kenntnis von Strukturen – für viele Menschen sind dies noch keine hinreichenden Motive für den Besuch einer Veranstaltung der politischen Bildung. Für sie ist ökologische Bildung dann von Interesse, wenn sie Techniken vermittelt bekommen, dieses in ihrem Alltag umzusetzen. Andere Menschen wollen sich engagieren und benötigen ganz konkretes Handwerkzeug zur Gründung von Vereinen und zur Erlangung der Gemeinnützigkeit. Politische Bildung wird also dann interessant, wenn sie mit der Vermittlung von (praktischen) Fertigkeiten einhergeht.

In unserem Arbeitsfeld haben wir diesbezüglich zur Kenntnis nehmen müssen, dass es bei „Argumentationsstrategien gegen Stammtischparolen“ nicht ausreichend ist, inhaltliche Argumente für alle erdenklichen Situationen zur Verfügung zu stellen. Viel wichtiger scheint es, kommunikative Haltungen einzuüben. So kam es zur Zusammenarbeit von politischer Bildung mit systemischer Kommunikation, die für die Teilnehmenden einen doppelten Effekt mit sich bringt: sie lernen etwas über die sich entwickelnde Szene „Rechts Außen“ und trainieren hilfreiche kommunikative Haltungen, die auch in anderen Kontexten zielführend sind.

Politische Bildung konkret anwendbar: Auf´s Leben zugeschnitten

Oben wurde bereits deutlich, dass politische Bildung heute kaum mehr zweckfrei stattfindet – entweder gibt es die in der gebotenen Klarheit und Abgrenzung beschriebenen Zusatzeffekte in Form der Vermittlung von Fertigkeiten. Oder die Menschen sind dann interessiert an politischem Wissen, wenn sie eine ganz konkrete Situation vor Augen haben, in der sie ihre gewonnene Bildung anwenden können. – „Omas gegen Rechts“ wollen sich engagieren und deshalb wissen, wie sich die extrem rechte Szene aktuell darstellt, wie sich die Szene aus Verschwörungsgläubigen, Esoteriker*innen und Reichsbürger*innen einschätzen lässt. Kommunalpolitiker*innen wollen wissen, welche Strategien sie anwenden können, um mit den frisch in ihr Parlament gewählten Rechtspopulisten demokratisch fair, aber dennoch in der gebotenen Klarheit und Abgrenzung umgehen können. Menschen, die Protestkundgebungen gegen extreme Rechte anmelden, besuchen bei uns eine Online-Veranstaltung, bei der wir ihnen eine juristisch-politische Expertise anbieten.

Neue Teilnehmende, neue Formate, neue Servicestrukturen – zwei Beispiele

Ein großer Verbund aus Wertebündnis, Volkshochschulen, Jugendringen, Landeszentrale und kirchlicher Bildungsarbeit veranstaltet seit einigen Jahren die „Lange Nacht der Demokratie“ (siehe dazu AEEB Verstaltungstipp) – wir haben uns als Bündnis für Toleranz gerne angeschlossen. Der Eventcharakter und die simultan an mehreren Orten durchgeführten Veranstaltungen führen zu einem Gemeinschaftserlebnis mit überregionaler Resonanz. Die Kooperation der verschiedenen landesweiten Träger erschließt neue Zielgruppen, der gute Service, die Finanzierung, Beratung und Öffentlichkeitsarbeit durch den bayernweiten Verbund erhöht die Aufmerksamkeit vor Ort. Als Konsequenz aus den guten Erfahrungen (siehe dazu PDF unter weitere Infos) hat die bayernweite Steuerungsgruppe sich an die Politik gewandt mit der Bitte, die Bedingungen für die politische Bildung zu optimieren. Im Bereich der Gedenk- und Erinnerungsarbeit hat sich ein Verbund etabliert, der Antworten gibt auf das Verschwinden der Zeitzeug*innen von Holocaust und Nationalsozialismus. Das Forum Erinnern ist ein Serviceangebot in Form eines Portals für institutionelle Anbieter*innen und institutionelle wie individuelle Nachfrager*innen von Bildungsveranstaltungen zur NS-Geschichte. Dankenswerterweise wurde es vom Bayerischen Lehrer und Lehrerinnen Verband (BLLV) aufgebaut und von einem Trägerkreis verantwortet, im dem auch das Bayerische Bündnis für Toleranz vertreten ist. Über 60 Bildungsorganisationen präsentieren inzwischen auf dem Internetportal ihre Angebote der historisch-politischen Bildungsarbeit. Interessierte können nach Bildungsangeboten, Ausstellungen, Vorträgen, Fortbildungen oder Projektideen an Schulen suchen, die Angebote sind thematisch, methodisch und regional geordnet. Auch aus dieser Arbeit ist ein offener Brief entstanden mit Ideen „für die Pflege eines kritischen Geschichtsbewusstseins“. (siehe dazu Brief als PDF unter weitere Infos).

Gute Erfahrungen zur Langen Nacht der Demokratie“ als PDF hier

Erinnerungskonzept – offener Brief an die bayerische Staatsregierung mit Ideen „für die Pflege eines kritischen Geschichtsbewusstseins“ als PDF hier

Zur weiteren Info

Bayerisches Bündnis für Toleranz

Das „Bayerische Bündnis für Toleranz − Demokratie und Menschenwürde schützen“ konstituierte sich im Juli 2005 in München auf Initiative der evangelischen und der katholischen Kirche. Das Bayerische Bündnis für Toleranz tritt für Toleranz sowie den Schutz von Demokratie und Menschenwürde ein und fördert diese Werte. Die Mitgliedsorganisationen bekämpfen rechtsextreme, antisemitische und rassistische Einstellungen, Haltungen und Handlungen, nicht aber die Menschen, die hinter diesem Gedankengut und diesen Aktivitäten stehen.

Link zur Homepage des Bayerischen Bündnis für Toleranz hier

Link zur „Projektstelle gegen Rechtsextremismus“ im Evangelischen Bildungs- und Tagungszentrum Bad Alexandersbad hier

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