Bildungsarbeit im Digitalzeitalter

Die technologische Revolution des digitalen Zeitalters verändert den Bildungsmarkt einschneidend. Die Evangelische Erwachsenenbildung steht vor neuen Herausforderungen. Dabei kann die Besinnung auf ihre Wurzeln helfen.

Ein Bericht von Prof. Dr. Thomas Zeilinger (Beauftragter der Evang.-Luth. Kirche in Bayern für Ethik im Dialog mit Technologie und Naturwissenschaft)

Digitale Transformation und Künstliche Intelligenz – Folgen für die kirchliche Bildungsarbeit
„Zur selben Zeit am selben Ort“ – Wer sich als Erwachsene*r in seinen/ihren individuellen Bildungsanstrengungen nicht auf das Lesen von Büchern oder das Hören und Sehen via Rundfunk und TV beschränkten wollte, war es lange Zeit gewohnt, sich zu einem bestimmten Termin an einen bestimmten Ort auf den Weg machen. Egal, ob beim Abendvortrag oder beim Ganztagesworkshop: Die eigene Suche nach Wissen war an Angeboten orientiert, aus denen ich zu feststehenden Zeiten und Orten auswählen konnte. Das eigene Bildungserlebnis war durch Räume und Zeiten geprägt, die mir ein Anbieter an einer Akademie oder in einem Bildungswerk zur Verfügung stellte.
Diese Bildungseinrichtungen gibt es auch heute noch, doch spätestens seit den Zeiten der Covid-Pandemie treffen ihre Bildungsangebote auf fundamental veränderte Rahmenbedingungen. Während in vordigitalen Zeiten die Anbieter den Bildungsmarkt mit ihren Veranstaltungsorten und Terminen strukturierten, ordnet er sich nun von der Seite der Nachfrage: Es sind die Orte und die Termine derer, die sich bilden wollen, an denen sich Erwachsenenbildung in digitalen Zeiten ausrichtet. Zugespitzt gesagt, sind es mein Kalender und mein (digitales) Zuhause, an denen sich das eigene Bildungsprogramm orientiert. Während die einen dies als Zerfall zusammenhängender Bildungsräume beklagen, feiern andere die Individualisierung der Gelegenheiten, sich maßgeschneidert zu bilden.
Die Praxis kirchlicher Bildungsarbeit bewegt sich irgendwo und irgendwie dazwischen. Sicher: Bildung ist mehr als bloße Wissensbeschaffung auf Knopfdruck, sie braucht Austausch und Gespräch, Auseinandersetzung und Begegnung, gemeinsames Lernen und Zeit für Dialog und Diskurs. Aber der Markt solcher Bildung organisiert sich eben vom Lern- und Bildungsinteresse der Einzelnen her. Dieses Interesse ist seinerseits mehr und mehr „digital“ und „medial“ bestimmt. Attraktiv und unterhaltsam, kurzweilig und originell, authentisch und auf der Höhe der Zeit muss das Programm schon sein, damit es nicht weggeklickt oder abgewählt wird.
Unter diesen Bedingungen versucht auch die evangelische Bildungsarbeit im verschärften „Kampf um Aufmerksamkeit“ zu bestehen: Digitale Formate und Kanäle werden erprobt, Bildsprache (Videos, Fotos etc.) erhält eine neue, sehr viel höher eingestufte Art der Wertschätzung.
Dabei geht unter dem Stichwort „Künstliche Intelligenz“ unversehens die nächste Beschleunigungsstufe der digitalen Transformation an den Start. Das Wissen selbst wird noch schneller aufbereitet und noch spezifischer und präziser mit meinen Fragen in Verbindung gebracht. Die Möglichkeiten enden nicht bei der verständlichen Zusammenfassung komplizierter Aufsätze. Auch bei der didaktischen Aufgabe der Wissensvermittlung in Form von Curricula und Seminarplanung vermag das maschinelle Lernen gute Dienste zu leisten.
Was folgt aus all dem für die Erwachsenenbildung in Kirche und Gemeinde?
Ich sehe drei entscheidende Punkte. Alle drei überraschen im Zusammenhang evangelischer Bildung nicht. Doch sie sind überraschend aktuell, wenn sie in den digitalen Wandel von Bildung und Gesellschaft eingezeichnet werden.

  1. Bildung muss die Subjekte des Bildungsgeschehens ernst nehmen. Was wie eine Binse klingt, gewinnt seine Brisanz aus dem Bedürfnis, mitzuteilen und teilzuhaben. Soziale Medien und digitale Räume leben davon, eigene Gefühle und Gedanken auszudrücken und kundzutun. Sich damit auseinanderzusetzen und ins Gespräch zu treten, ist zugegebenermaßen oft mühsam und anstrengend. Gleichwohl sind Dialog und Gespräch heute der unhintergehbare Ausgangspunkt für die Bildungsarbeit. Die Testfrage für alle kirchlichen Bildungsanstrengungen dazu hat die EKD-Studie „Religiöse Bildungsbiografien ermöglichen“ im Jahr 2022 formuliert: „Werden den Subjekten in hinreichendem Maße Möglichkeiten eingeräumt, sich im umfassenden Sinne aktiv und kritisch in den Bildungsprozess einzubringen?“ (Seite 72 f.)
  2. Gerade in der Wissensgesellschaft von heute kommt es für Bildung nicht in erster Linie darauf an, Wissen zu vermitteln, sondern zum vernünftigen Gebrauch des Wissens zu befähigen. Urteilsfähigkeit zu fördern und Entscheidungskompetenz zu stärken, sollte für evangelische Bildung ein Herzensanliegen sein. Dabei geht es um mehr als um bloß instrumentelle Kompetenzen im Sinne von be- und verrechenbaren Fertigkeiten. „Anders als in der digitalen Welt, die … proklamiert, dass alles miteinander verrechenbar sei, gilt für die erlebte Lebenswirklichkeit, dass es Konflikte und Dilemmata gibt, die sich eben nicht verrechnen lassen.“ (R. Anselm, „Ethik der Digitalisierung in evangelischer Perspektive“, Ev. Akademie Loccum 2021). In den Worten der bereits zitierten EKD-Studie von 2022: „Während Lernen in der Regel darauf zielt, Unbestimmtheit in Bestimmtheit zu überführen, ist für Bildung grundlegend, dass bei der Herstellung von Bestimmtheit Räume der Unbestimmtheit und Unverfügbarkeit gewahrt werden. So gesehen wäre gerade auf dem Feld religiöser Bildung darauf zu achten, dass digitale ‚Lerntools‘ nicht darauf abzielen, möglichst ‚effektiv‘ oder gar ‚subjektnah‘ Bestimmtheit zu erzeugen – quasi als Nürnberger Trichter 2.0.“ (S. 73f.) Für diese Bildungsaufgabe braucht es Räume zum Erzählen und zum Austausch, Gelegenheiten, bei denen Ambivalenzen und Ambiguitäten ihren Platz und ihr Recht finden.
  3. Mit all dem wird bereits deutlich, dass auch und gerade inmitten der digitalen Transformation menschlicher Bildung der emanzipatorische Impuls der Aufklärung wie der biblischen Botschaft zentral bleibt: Ob wir mit Immanuel Kant vom Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit sprechen oder im christlichen Glauben von der Überzeugung geleitet sind, dass der Geist Christi uns aus Abhängigkeit befreit und uns Freiheit schenkt: Bildung buchstabiert sich immer auch als Befreiungsgeschehen. Die erwähnte EKD-Schrift spricht an dieser Stelle von „Empowerment“. Auch wenn das Wort selbst arg neudeutsch klingt, weist es zum einen doch auf etwas hin, was dem reformatorischen Bildungsverständnis vertraut ist: Selbst in Kontexten maschinellen Lernens ist „digitale Bildung nicht, wie es manchmal scheint, etwas ganz Neues oder Eigenes; sie zielt, wie alle Bildung, auf Subjektwerdung, Selbstwirksamkeit und Mitmenschlichkeit.“ (S. 75) Auf der anderen Seite markieren diese drei Ziele genau die Aufgaben, die Gottes Geist uns heute angesichts der Entwicklungen im Bereich Digitalität und Künstliche Intelligenz neu zu buchstabieren aufgibt.

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