Die konstruktive Macht von Sichtweisen

“Leben und Lernen unter einem Dach” – das 1958 gegründete Evangelische Bildungszentrum (EBZ) Bad Alexandersbad ist auf die Bildungsanliegen von Menschen in ländlichen Räumen ausgerichtet und hat sich im Laufe der Jahrzehnte nicht nur als gefragtes Seminarhaus, sondern auch als eine Arbeitszentrale für politische Bildung in der ELKB etabliert. Lesen Sie hier einen Bericht von Andreas Beneker (Pädagogischer Leiter und theol.-päd. Vorstand im EBZ Bad Alexandersbad) über klassische und neue Bildungsansätze in seiner Einrichtung.

Schwierig!“ konstatiert die vor mir sitzende ältere Dame und betont erneut: „Schwierig, mir hom‘ des halt anders gelernt!“ Das Wort „anders“ betont sie dabei besonders. Sie ist Teilnehmerin eines unserer Landfrauenkurse, die seit vielen Jahren vom EBZ Bad Alexandersbad angeboten werden. Die meisten der Teilnehmerinnen sind heute älter, einige gar hochaltrig. Manche von Ihnen haben noch Kindheitserfahrungen aus der Zeit von Krieg und Nationalsozialismus. Interessante Seminare sind dies schon deshalb, weil die Frauen mit ihrem reichen Schatz an Lebenserfahrung jede Diskussion bereichern. Und diskutieren, das tun sie eifrig und durchaus kontrovers.

Was aber hatte meine Gesprächspartnerin „anders“ gelernt? Als Leitthema für unsere Landfrauenkurse hatten wir uns heuer das Thema „Du siehst mich!“ vorgenommen. Die Parallele zur Jahreslosung ergab sich dabei eher unbeabsichtigt. Unser Ziel war es, auf der einen Seite die Lebensleistung der Frauen, mit denen wir es zu tun haben, zu würdigen und buchstäblich „in den Blick“ zu nehmen und weiter, auf die konstruktive Macht von Sichtweisen hinzuweisen. Schließlich wollten wir punktuell Sichtbarkeit von Gruppen herstellen, wo wir den Eindruck hatten, dass dies nötig und hilfreich sei.

Hinter ihr und ihrer Seminargruppe liegt eine Einheit zum Thema „Antiziganismus“, durchgeführt von der Kollegin auf der „Evangelische Arbeitsstelle Antiziganismus Bayern“ bei uns am Haus. Mit Hilfe von biografischen Beispielen und Impulsen wurden die Seminarteilnehmerinnen für das Schicksal der Sinti und Roma von der frühen Neuzeit bis heute sensibilisiert.

Ihre Äußerung lässt deutlich werden, vor welchen Aufgaben die Etablierung einer Erinnerungskultur steht. Geht es doch nicht allein um das „Erinnern“ von etwas, was man als zu einer Tätergruppe gehörige Person partout nicht erinnern möchte. Es geht zudem um die Auseinandersetzung mit tief verankerten, nicht immer bewussten, aber gerade darum fatalen Lernerfahrungen. Erfahrungen, die, wenn sie sich gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen richten, oft die Verkehrung von Opfern und Tätern zur Grundlage haben. Nach dem 2. Weltkrieg galt dies in Deutschland für die Gruppe der Sinti und Roma im Besonderen. Wenn der BGH in einem Urteil von 1956 (der Jugendzeit meiner Gesprächspartnerin!)  festhält, die staatlichen Verfolgungsmaßnahmen vor 1943 seien legitim gewesen, weil sie von “Z……..” durch “eigene Asozialität, Kriminalität und Wandertrieb” selbst veranlasst gewesen seien, wird diese Verkehrung von Opfern und Tätern höchstrichterlich gerechtfertigt und gefestigt.

Kann es gelingen, dem durch Bildungsarbeit – konkret durch die oben angesprochene Einheit – etwas entgegen zu setzen? Ich würde sagen: Ja! Das „schwierig“ meiner Gesprächspartnerin signalisiert zwar Widerstand, aber eben auch eine Verunsicherung, die zuvor nicht da war. Es ist etwas in Bewegung gekommen, was fest gefügt schien. Ein erster Schritt „nur“, aber ein unabdingbarer. Wie sollte es auch sonst gehen, wenn man es zuvor „anders gelernt“ hat? Zugleich macht das Gespräch deutlich, dass dies keine Angelegenheit eines Nachmittages ist, sondern nach weiteren Impulsen und Gesprächsangeboten ruft.

Diese kleine Szene ist in gewisser Weise typisch für die Veränderungen, die die Bildungsarbeit am EBZ Bad Alexandersbad in den letzten Jahren erfahren hat. Die residentielle Bildung, das „Leben und Lernen unter einem Dach“ ist der Klassiker der Heimvolkshochschulpädagogik Grundtvig‘ scher Prägung. Sie wird in Alexandersbad seit den Anfängen des Hauses 1958 praktiziert. Unsere Landfrauenkurse sind Teil dieser klassischen Arbeit. Aber die Zeiten ändern sich und sie ändern uns. Neue Formen der Bildungsarbeit, vor allem der politischen Bildung haben sich in den letzten Jahren dazugesellt. Fünf Koordinierungs- und Fachstellen im Bundesprogramm „Demokratie leben“ gehören dazu. Inzwischen sind diese selbst nicht mehr ausschließlich Zuschussgebende für Kleinprojekte in der Demokratiearbeit, sondern stoßen selbst Projekte an. Auch die „Evangelische Arbeitsstelle Antiziganismus Bayern“, als relativ junges Kind am EBZ, ist Teil dieser Veränderungen. Als Teil des „Kompetenznetzwerkes im Themenfeld Antiziganismus“ im Bundesprogramm „Demokratie leben“ arbeitet sie unter der Federführung der „Evangelischen Akademie Berlin“. Hier werden neue Bildungsformate erprobt, die nicht vor allem auf residentieller Seminarpraxis basieren, sondern das Haus verlassen, hinausgehen, mit Erinnerungsorten und den Menschen, die diese oft zufällig aufsuchen, arbeiten, Workshops mit Schulklassen durchführen, Ausstellungen gestalten usw.. Andere Projekte ließen sich ebenso nennen, wie die Arbeit der kommunalen Konfliktberatung in Bamberg oder die Jugendbildung in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Flossenbürg. So hat sich das EBZ Bad Alexandersbad in den vergangenen zehn Jahren nicht mehr nur als Seminarhaus, sondern neben seinen Seminarangeboten als eine Arbeitszentrale der politischen Bildung in der ELKB unter anderen und nicht zuletzt als gefragte Partnerinstitution innerhalb der kommunalen Familie Oberfrankens etabliert. Man vertraut uns, weil wir als kirchliches Haus, als das wir gesehen werden, auch in konservativen Kreisen als ehrliche Makler in manchen sensiblen Fragen der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und antidemokratischen Strömungen gelten. – Auch das ist „Kirche bei den Menschen“.

Denkbar ist das alles freilich nicht ohne die Arbeit der Geschäftsstelle des „Bayerischen Bündnisses für Toleranz, Demokratie und Menschenwürde schützen“, die seit vielen Jahren bei uns ihren Sitz hat. Von hier aus wurden viele dieser neuen Projekte angestoßen und inspiriert.

Wie wird sich die Arbeit weiterentwickeln? Hat das Bildungs-„haus“  mit seinen residentiellen Formaten noch Zukunft? Ich bin fest überzeugt davon und dies aus mehreren Gründen: Zum einen brauchen auch die o.a. neueren Arbeitsformen einen institutionellen Andock- und Ausgangspunkt, der Identifikation ermöglicht. In den Städten mögen das die Stadtakademien leisten, auf dem Land sind Häuser wie das unsere ideal. In Oberfranken sind das „die Alexandersbader“, die „das“ machen.
Dann haben Bildungshäuser auf Grund ihrer Geschichte nach wie vor besonderen Zugang zur ländlich, traditionell – konservativen Zielgruppe. Gerade sie ist es jedoch, die es auf den Weg der Veränderungen, in denen unsere Gesellschaft und Kirche sich befinden und die uns noch bevorstehen, mitzunehmen (und n. b. zu beteiligen) gilt.
Schließlich aber ermöglicht das gemeinsame Lernen am dritten Ort als  „Leben und Lernen unter einem Dach“ in einer Weise nachhaltige Lernerfahrungen, wie sie anders nur schwer zu realisieren sind.
Insofern liegt in der Verbindung von neuen und etablierten Arbeitsweisen, wie sie die eingangs beschriebene Einheit in gewisser Weise symbolisiert, für uns die Zukunft. Eine Zukunft, die gewiss herausfordernd ist, auf die wir uns aber gerne einlassen.

Zur weiteren Info:

Einen Link zur Website des Evangelischen Bildungszentrum Bad Alexandersbad finden Sie hier

Antiziganismus: ist ein in Analogie zu “Antisemitismus” gebildeter Begriff. Er beschreibt eine spezifische Form des Rassismus, die sich gegen Sinti und Roma richtet oder gegen Menschen, die als Sinti oder Roma wahrgenommen werden.

Infos zum Themen “Antiziganismus” finden Sie sowohl auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung hier , als auch beim Kompetenznetzwerk im Themenfeld Antiziganismus hier

Bunt nicht Braun – einen Link zur Website des Bayerischen Bündnis für Toleranz, Demokratie und Menschenwürde finden Sie hier

Einen Link zum Bundesprogramm “Demokratie leben” finden Sie hier

Die Landfrauen im Bayerischen Bauernverband feiern in diesem Jahr ihr 75-jähriges Bestehen. Seit 1948 gestalten die Landfrauen das Leben vielfältig mit – auf den Höfen, in den Dörfern und Gemeinden in allen Regionen Bayerns und tragen damit auch zur Stabilität im Land bei. Einen link zur Homepage der Landfrauen finden Sie hier

Related Posts

Datenschutz
Wir, Arbeitsgemeinschaft für Evangelische Erwachsenenbildung in Bayern e.V. (Vereinssitz: Deutschland), würden gerne mit externen Diensten personenbezogene Daten verarbeiten. Dies ist für die Nutzung der Website nicht notwendig, ermöglicht uns aber eine noch engere Interaktion mit Ihnen. Falls gewünscht, treffen Sie bitte eine Auswahl:
Datenschutz
Wir, Arbeitsgemeinschaft für Evangelische Erwachsenenbildung in Bayern e.V. (Vereinssitz: Deutschland), würden gerne mit externen Diensten personenbezogene Daten verarbeiten. Dies ist für die Nutzung der Website nicht notwendig, ermöglicht uns aber eine noch engere Interaktion mit Ihnen. Falls gewünscht, treffen Sie bitte eine Auswahl: