„Jungen Menschen gehört die Zukunft. Wer hier spart, spart an der Zukunft der Demokratie!“ meint Hendrik Meyer-Magister, Stellvertretender Direktor und Studienleiter an der Evangelischen Akademie Tutzing, und erklärt, warum sowohl unser Staat, als auch die Evangelische Erwachsenenbildung in die Gen Z investieren sollten.
Eine Szenerie aus meinem Sommerurlaub: Während ich mit der Familie in einem Café am Marktplatz sitze, läuft eine Handvoll Menschen auf, die Transparente und Fahnen entrollen: schwarz-rot-goldene Banner sind zu sehen, deren drei Streifen unmittelbar in das Weiß-Blau-Rot der russischen Fahne überlaufen. Auf einem Transparent steht: „Demokratischer Widerstand“. Wogegen, bleibt unbestimmt, auch was hier „Demokratie“ meinen soll. Daneben sind hellblaue Fahnen mit der Friedenstaube zu sehen, dem Symbol der deutschen Friedensbewegung der 1980er Jahre. Das Trüppchen trägt T-Shirts mit dem Slogan „Free Julian Assange“ und verteilt Faltblätter über Edward Snowden. Insgesamt eine skurrile Zurschaustellung politischer Orientierungslosigkeit, eine Bricolage (Anmerkung d. Red.: Der von Claude Lévi-Strauss 1962 in die Anthropologie eingeführte Begriff kommt aus dem Französischen und steht für ein Verhalten, bei dem der Akteur (Bricoleur) mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen Probleme löst, anstatt sich besondere, speziell für das Problem entworfene Mittel zu beschaffen.) politischer Symbole und Zeichen, nicht zusammenpassender Fragmente der politischen Debatte und Geschichte.
All das lediglich als Skurrilität abzutun, verbietet sich jedoch! Denn aus dieser grundlegenden politischen Orientierungslosigkeit speist sich das Reservoir von bis zu einem Fünftel der Wählerinnen und Wähler, die antidemokratischen Parteien ihre Stimme geben könnten. Wir erleben damit sicherlich nicht die erste Krise der parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Aber ich stimme Gerhard Baums jüngster Einschätzung im Kölner Stadtanzeiger (Interview: “Die Nazis sind wieder da”) zu, dass in der derzeitigen Popularität rechtspopulistischer bis rechtsextremer Parteien die wohl größte Gefahr für die Demokratie in Deutschland seit 1949 besteht.
Die deutsche Gesellschaft und unsere liberale, parlamentarische Demokratie bauen auf dem festen Boden des Grundgesetzes auf und gründen so in der unveräußerlichen Menschenwürde und den Menschenrechten. Dieser Konsens wird infrage gestellt. Getragen wurde dieser Konsens seit der Nachkriegszeit nicht allein von Parteien und politischen Institutionen, sondern auch von zahlreichen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen. Auch der bundesdeutsche Protestantismus hat sich vor dem Hintergrund der eigenen ambivalenten Rolle im Nationalsozialismus von Beginn an – zumindest in Teilen – für den Aufbau und Erhalt der neuen freiheitlichen, demokratischen Grundordnung stark gemacht. Die Evangelischen Akademien sind aus diesem Motiv heraus gegründet worden. Die Evangelische Erwachsenbildung insgesamt leistet bis heute wichtige politische Bildungsarbeit, die über Extremismusprävention in konkreten Krisen weit hinaus geht: Es geht um die Einübung demokratischer Kultur und Haltung als Fundament der Gesellschaft.
Ein demokratisches Bewusstsein entsteht nicht von allein. Es muss gebildet und wachgehalten werden – lange bevor die Demokratie in die Krise gerät. Dass der Entwurf des Bundeshaushaltes 2024 ausgerechnet in der gesellschaftspolitischen Jugendbildung drastische Einsparung vorsieht, ist dabei ein Alarmsignal! In der zivilgesellschaftlichen politischen Bildung, nicht zuletzt in den Evangelischen Akademien, sind damit konkrete Projekte bedroht, die mit jungen Menschen demokratische Orientierungen und Praktiken einüben. Die Evangelischen Akademien in Deutschland (EAD) rufen daher gemeinsam mit weiteren Trägern der politischen Jugendbildung zum Protest gegen die Einsparungen auf. Unter dem Motto „Spart anders!“ hat die Evangelische Akademie Frankfurt eine Online-Petition ins Leben gerufen, die wir seitens der Evangelischen Akademie Tutzing vollumfänglich unterstützen. Jungen Menschen gehört die Zukunft. Wer hier spart, spart an der Zukunft der Demokratie!
Junge Menschen sind aber auch die Zukunft der Evangelischen Erwachsenenbildung. Die Mittelkürzungen der Politik zu kritisieren ist das eine, das andere ist, sich immer wieder selbst die Fragen zu stellen: Wie erreichen wir noch mehr und andere Menschen als bisher? Und wie erreichen wir gerade eine jüngere Generation? Passt unser Angebot, um auch den Menschen von morgen noch Orientierung zu bieten?
Dazu nehme ich bereits viele gute Überlegungen, Initiativen und Projekte wahr. Wie an drei weiteren Evang. Akademien in Deutschland gibt es zum Beispiel seit 2020 auch in Tutzing das Projekt „Alles Glaubenssache? – Prävention und politische Bildung in einer Gesellschaft der Diversität “, das unter der Leitung meiner Kollegin Beate Hartmann Projekte zur Rolle von Religion in der Demokratie durchführt. Dabei arbeitet Frau Hartmann bayernweit direkt in den Schulen, teilweise in Kooperation mit den dortigen “Respect Coaches” (Anmerk. d. Red.: Respekt Coaches ist Teil des Nationalen Präventionsprogramms gegen islamistischen Extremismus und wird vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert.). Allein in 2022 wurden über 200 Schüler*innen und gut 100 Multiplikator*innen erreicht. In einem Filmprojekt mit Schüler*innen in Lauingen sind beispielsweise sehr persönliche und berührende Portraits von Familien entstanden, die ihre Wohnungen geöffnet haben und anhand typischer Gerichte einen Einblick in ihre Kultur geben. Das Projekt „Alles Glaubenssache?“ ist Teil eines bundesweiten Förderprogramms, das nun ebenfalls zur Disposition steht.
Darüber hinaus beschäftigen mich vor allem zwei Dinge. Erstens: Wie geht Erwachsenenbildung im Zeitalter der Digitalität? Wichtig erscheint mir, den digitalen Raum nicht allein als weiteren „Veranstaltungsraum“ für Bildungsarbeit zu begreifen, sondern als „Verdopplung“ der Welt (siehe Buchtipp “Muster.Theorie der digitalen Gesellschaft” von Armin Nassehi). Das Digitale ist vom Kommunikationsmittel zum Sozialraum vieler Menschen geworden. Er hat eigene soziale Gesetze und Dynamiken. Dafür müssen wir sowohl inhaltlich als auch konzeptionell neue Wege gehen.
Zweitens treibt mich die Frage um: Wie können wir in Zeiten, in denen auch zwischen den Generationen wie der „Gen Z” und den “Boomern” Risse entstehen und medial verstärkt werden, den so nötigen Dialog ermöglichen? (Anmerk. d. Red.: Mit Gen Z beschreibt die Soziologie Menschen der Geburtenjahrgänge 1995 bis 2010, Babyboomer wurden zwischen 1946 bis 1964 geboren.) Wie gelingt es uns, jüngere Menschen in den Angeboten der Erwachsenenbildung mit älteren zusammenzubringen? – Passende Antworten sind für mich zum Beispiel unsere Mitte Oktober stattfindende Veranstaltung „Das Böse denken – interdisziplinäre Perspektiven“, bei der eine Gruppe von Studierenden der Uni Bamberg, die unserer Akademie schon länger verbunden sind, mit Menschen ins Gespräch kommen. Und für Januar 2024 planen wir gerade eine Tagung mit dem Titel “Hey Alter! Generationen vernetzt im Quartier”, die dezidiert nach dem Miteinander der Generationen im Quartier fragt – hoffentlich auch mit jungen Teilnehmenden! – Beides sind aber nur erste, kleine Ansätze. Ich vermute, dass wir ganz neu über unsere Programme und Formate nachdenken müssen, um jenseits spezifischer Angebote mehr Jüngere zu erreichen und Menschen generationenübergreifend zusammenzubringen. Das heißt auch, Selbstverständliches zu hinterfragen, Abschied von Liebgewonnenem zu nehmen und Neues auszuprobieren – mit Zutrauen, Risikobereitschaft und Fehlertoleranz! Es geht um die Zukunft der Erwachsenenbildung genauso wie um die Stärkung der Zivilgesellschaft.
Zur weiteren Info:
Im Haushaltsentwurf der Bundesregierung ist für 2024 u.a. vorgesehen, das Geld für den Kinder- und Jugendplan (KJP) zusammenzustreichen: ca. 45 Mio. Euro weniger als im Vorjahr, knapp 19 Prozent! Mitte September hat die Evangelische Akademie Frankfurt deshalb die Online-Petition „Spart anders!“ gestartet. Sie richtet sich gegen die angekündigten drastischen Kürzungen in der Kinder- und Jugendbildung. „Die Regierung nimmt damit in Kauf, dass eine ganze Generation heranwächst, die nicht mehr umfänglich lernt, wie jeder und jede Einzelne Teil der Demokratie sein kann und muss, damit Demokratie funktioniert“, so die Initiator*innen. Die Petition appelliert an den Deutschen Bundestag, die Sparpläne nicht zu beschließen und stattdessen einen Schwerpunkt auf die Zukunft und das Leben junger Menschen in unserer Demokratie zu legen. Die Evangelische Akademie Deutschland unterstützt die Petition und ruft dazu auf, sie in den sozialen Medien zu teilen, Kolleg*innen und Bekannten davon zu erzählen und natürlich, sie zu unterzeichnen.
Link zur Online-Petition „Spart anders!“ hier
Link zur Website der Evangelischen Akademie Tutzing hier
Buchtipp: “Muster.Theorie der digitalen Gesellschaft”; Autor: Armin Nassehi; Herausgeber: C.H.Beck; 3. Edition (28. Oktober 2019); Preis: 26 Euro
Inhalt: Wir glauben, der Siegeszug der digitalen Technik habe innerhalb weniger Jahre alles revolutioniert: unsere Beziehungen, unsere Arbeit und sogar die Funktionsweise demokratischer Wahlen. In seiner neuen Gesellschaftstheorie dreht der Soziologe Armin Nassehi den Spieß um und zeigt jenseits von Panik und Verharmlosung, dass die Digitalisierung nur eine besonders ausgefeilte technische Lösung für ein Problem ist, das sich in modernen Gesellschaften seit jeher stellt: Wie geht die Gesellschaft, wie gehen Unternehmen, Staaten, Verwaltungen, Strafverfolgungsbehörden, aber auch wir selbst mit unsichtbaren Mustern um?