Irgendwie ein bisschen so wie beim Lego spielen…

Als „Fenster der Kirche zur Gesellschaft“ beschreibt Prof. Dr. Reiner Anselm die Evangelische Erwachsenenbildung (EEB). Allerdings, so Anselm, werde dieses Fenster kleiner. – Eine Tendenz, die auch wir im EBW Weilheim seit einigen Jahren beobachten und Corona hat diesen Prozess noch deutlich beschleunigt. Irgendwie will die Bildungsarbeit nicht mehr so richtig anlaufen, zwei Jahre Pandemie hieß: Weitgehender Wegfall von Präsenzveranstaltungen, Digitalangebote eroberten den Bildungsmarkt. Jetzt ist es anders – neue Lösungsansätze wie Cynefin Framework können Bewegung ins Spiel bringen!

Ein Bericht von Norbert Räbiger (Geschäftsführer und pädagogische Leitung im EBW Weilheim)

Jetzt ist es anders? – Ja, denn inzwischen werden digitale Veranstaltungen nicht mehr so gut angenommen. Man kann sich wieder treffen, aber es kommen weniger Teilnehmende und es gibt auch deutlich weniger Angebote vor Ort in den Kirchengemeinden. Hinzu kommt, dass wir mit unserem Programm eher Menschen erreichen, die die Familienphase größtenteils hinter sich haben, die auf den Ruhestand zugehen oder bereits dort sind. – Was bedeutet das für unsere Arbeit und wie können wir den Herausforderungen begegnen? Wie können wir die EEB wieder zum Leben erwecken? Wie können wir bisher unerreichbare Menschen ansprechen und noch eine viel wichtigere Frage: Wie können wir uns und unsere Haltung, unser Denken, unser Herangehen an die Herausforderungen verändern?

Fakt ist: Wir haben kein fertiges Modell mehr, auf das wir zurückgreifen können, und wir haben keine Baupläne, nach denen wir Erwachsenenbildung neu starten könnten. Es ist ein bisschen so wie beim Lego spielen: Die Modelle sind zerlegt in Kleinteile, sie haben ihren Reiz verloren. Auch in den Kinderzimmern meiner Söhne liegen manchmal extrem viele Bausteine rum. Baupläne existieren zwar, aber es macht nicht wirklich Spaß, die einzelnen, benötigten Steinchen zu suchen. Also aufräumen, alles in Kisten verstauen und verstauben lassen? – Kinder begegnen dem Legospiel anders: Irgendwann gehen sie nicht mehr nach Plan vor, sondern schauen, welche interessanten Bausteine sie finden und wie sie diese miteinander kombinieren können. Manchmal funktioniert es, manchmal werden Teile wieder abgebaut und anders zusammengesetzt. Manchmal wird das Gebaute auch wieder komplett verworfen, um dann wieder ganz von vorne anzufangen.

Was Lego spielen mit der EEB zu tun hat?

Eine ganze Menge, finde ich. Das, was ich mit Legosteinen beschrieben habe, erleben wir aktuell an ganz vielen Stellen innerhalb der Gesellschaft und natürlich auch innerhalb der Kirche. Bewährtes (im Sinne von Best Practice, also fertige Modelle) funktioniert vielerorts nicht mehr, wird nicht mehr angenommen. Folglich müssen wir alles auseinandernehmen und neu zusammenbauen. Wir stehen vor einem Haufen Bausteine und können uns noch nicht vorstellen, wo es hingehen kann. Einen Bauplan (im Sinne von Good Practice) gibt es nicht. Wir bewegen uns im KOMPLEXEN TERRAIN (Emergent Practice). – Die hier stark zusammengefassten Inhalte gehen auf das so genannte Cynefin-Framework zurück, ein Wissensmanagement-Modell von Mary E. Boone und Dave Snowden aus dem Jahr 1999. (siehe unten).

In diesem komplexen Terrain hat man Bausteine, aber keinen Plan und man kann sich auch keinen Plan machen, weil Dinge – in unserem Fall natürlich Menschen – in Bewegung sind. Man muss einfach anfangen und ausprobieren. Im Ausprobieren merkt man dann, was funktioniert und was nicht oder, ob die Richtung stimmt. Es geht darum im „Prozess zu sein“, Ziele anzupassen, beweglich zu bleiben. (Interessant dazu, ein Prezis zum Thema „Effectuation“: https://www.effectuation.at/project/effectuation-prezi-5-min/). Und es bedeutet die Menschen zu beteiligen, die wir eigentlich erreichen wollen.

Von der Theorie in die Bildungspraxis

Wie viele in der Bildungspraxis beschäftigt sich auch der Vorstand des EBW Weilheim schon länger mit der Frage, wie wir Menschen mit unseren Angeboten erreichen können und wie diese Formate aussehen müssten. Vieles wurde verworfen, weil es zu ressourcenintensiv war – z.B. „Bildung to go“ in der Bahnhofshalle. Eine andere Überlegung war, den Vorstand durch eine Verbindungsperson zum Jugendwerk zu ergänzen. Das ist uns gelungen! Das Portfolio dieser Person ist tatsächlich sehr hilfreich gewesen: Früher in der Evangelischen Jugend engagiert, Soziale Arbeit und Bildungswissenschaften studiert, als Jugendreferent in einer Kirchengemeinde gearbeitet, junger Vater, vielfältig vernetzt. Eine weiterer glücklicher Umstand, der uns neue Möglichkeiten eröffnet hat: Zwei Mütter, die sich früher in der Evangelischen Jugend engagiert haben und nun nach Studium sowie Familiengründung wieder bei uns im Dekanat heimisch geworden sind. Nina und Carolin waren auf der Suche, wie sie wieder an Kirche anknüpfen konnten. Gefunden haben sie wenig bis nichts – so geht es leider vielen Menschen, die zu uns in die Region ziehen. Es fehlen einfach Kontaktflächen oder neudeutsch: Touchpoints. Die Idee der beiden Frauen war, kirchliche Angebote dort zu machen, wo Menschen und vor allem junge Erwachsene sowie Familien sind. Zum Beispiel im Biergarten, auf Spielplätzen usw. Als sie mit uns im EBW Kontakt aufnahmen, hatten sie schon Verschiedenes ausprobiert und gemerkt: da geht was! Aber sie konnten das nicht in ihrer Freizeit machen und suchten einen Träger. Aus dieser Idee heraus entstand unser M.U.T.-Projekt (https://mut-elkb.de/) „WirkWerk“.

WirkWerk – Chancen erkennen und nutzen

Das Weilheimer WirkWerk (https://www.wirkwerk-weilheim.de/) selbst ist ein Netzwerk von Menschen, das in die Gestaltung eingebunden wird. Bei der Eröffnung im Oktober 2022 kamen 200 Menschen von wirklich jung bis knapp unter 80 Jahren bei strömendem Regen in einem Biergarten zusammen, der extra für die Feier nochmal aufgemacht hatte. Jetzt geht es erst einmal darum, den Kontakt zu halten und auszubauen:

  • Stammtische jeweils am ersten Mittwoch eines Monats, bei denen aber ein intensiver Austausch über die Situation der Teilnehmenden, über Interessen, über Gaben und Begabungen, über Familie, über Politik etc. stattfindet
  • Spielplatztreffs, um den Kontakt zu Familien aufzubauen, die noch nicht an das Netzwerk angedockt sind

In der nächsten (Bau-)Phase heißt es dann: Ausprobieren, verändern, anpassen, sich inspirieren lassen von dem, was uns die Menschen sagen und was sie selbst einbringen. Das ist eine sehr spannende Herausforderung, denn wie eigentlich ticken junge Erwachsene und Familien heute? – Junge Erwachsene und Familien explorieren, probieren aus, sind risikofreudig und haben vielfältige Optionen, aus denen sie sich die passenden auswählen. Wie also können wir als Kirche und in der kirchlichen Erwachsenenbildung für diese Menschen Kontaktflächen bieten? – Was wir mit dem WirkWerk versuchen, ist eine neue Ausdrucksform von Kirche (https://freshexpressions.de/). Wir wollen Menschen erreichen, auf die wir mit herkömmlichen Formaten nur schwer stoßen. Das WirkWerk ist für uns ein Erprobungsraum, der neben dem Angebot der Kirchengemeinden und der dekanatsweiten Dienste entsteht. Das kann als Konkurrenz aufgefasst werden. Wir jedoch sehen darin eine Ergänzung, weil diese Menschen bisher nicht so stark von kirchlichen Angeboten angesprochen werden. Und vor allem sehen wir Chancen, unterschiedliche Modelle von Kirche nebeneinander auszuprobieren und zu schauen, wo sich etwas ergänzen kann, wo Menschen neue Kontaktflächen finden, wo wir Kirche in einem Netzwerk erproben und entwickeln können. Das Projekt ist zunächst auf zwei Jahre angelegt. Bis dahin brauchen wir Ressourcen, mit denen wir das Projekt weitertragen und vor allem immer wieder weiterentwickeln können: neu, anders, fresh!

Nähere Infos zum EBW Weilheim hier

Cynefin-Framework: ist ein Wissensmanagement-Modell zur Beschreibung von Problemen, Situationen und Systemen und soll Unternehmen dabei helfen, flexible Lösungen und Strategien zu entwickeln. Ursprünglich kommt das Wort Cynefin aus dem Walisischen (übersetzt: ‘Lebensraum’ oder ‘Platz’) und wurde von dem walisischen Forscher und Unternehmensberater Dave Snowdon gewählt, um die evolutionäre Natur komplexer Systeme zu veranschaulichen. Cynefin Framework erweitert dieses Modell von Wissensmanagement und übersetzte es in den Kontext von Organisationsstrukturen. Das Modell besteht aus fünf Feldern, in das sich Systeme, Probleme und Themen einordnen lassen: 1. Einfach (Best PracticeErkennen, Kategorisieren, Reagieren), 2. Kompliziert (Good Practice – Erkennen, Analysieren, Reagieren), 3. Komplex (Emergent Practice – Ausprobieren, Erkennen, Reagieren ), 4. Chaotisch (Novel Practice – Handeln, Erkennen, Reagieren) und 5. Unklar. Das Modell veranschaulicht diese Kategorien, wie sich Wissen und Erfahrung auf die Lösungsstrategien für bestimmte Probleme auswirken. Entscheidungstreffende können so das Problem aufgrund der vorhandenen Wissensbasis einordnen und die passende Lösungsstrategie oder das beste Vorgehen bestimmen.

Nähere Infos dazu unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Cynefin-Framework

Eine weitere, gute Erläuterung des Cynefin Framework-Modell finden Sie auch auf der Homepage der Göttinger Resilienzakademie (Autor: Sebastian Mauritz)  hier

Foto: Andra Berili auf pixabay

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