Das große Herz der Menschheit – eine Erinnerung an Etty Hillesum

AEEB Interview zu: „Ich will die Chronistin dieser Zeit werden“

„Ich will die Chronistin dieser Zeit werden“ – Am 16. März 2023 erscheint die erste deutschsprachige Gesamtausgabe von Etty Hillesums Tagebüchern und Briefen, die von Dr. Pierre Bühler, ehemaliger Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich, herausgegeben wird. Anlässlich der Veröffentlichung sprach Prof. Dr. Hans Jürgen Luibl (AEEB) mit Pierre Bühler über Etty Hillesum gesprochen. (Beide kennen sich aus der gemeinsamen Zeit und Arbeit an der Universität Zürich.)

AEEB: Lieber Pierre, im März 2023 erscheint die erste deutschsprachige Gesamtausgabe von Etty Hillesum, 80 Jahre nach ihrem gewaltsamen Tod. Warum so spät?

Pierre Bühler: Ja, das ist in der Tat sehr spät. Die Hefte blieben längere Zeit liegen. Erst in den 80er Jahren gab es eine erste Teilausgabe ihrer Tagebücher und Briefe, „Das denkende Herz der Baracke“, zwar mit enormer Resonanz, übersetzt in mindestens 14 Sprachen. Später las ich dann die 2008 erschienene französische Gesamtausgabe. 2014 – zum 100. Geburtstag von Hillesum – reifte die Idee für eine dringend notwendige deutsche Gesamtausgabe. Nun liegt sie vor – und ich bin sehr glücklich darüber. Dass dies erst 80 Jahre nach ihrem Tod wirklich wurde, mag auch damit zusammenhängen, dass Hillesum all ihre hellwachen Beobachtungen des Alltags und des immer näher rückenden Horrors, die Wahrnehmung ihrer eigenen Gefühle und Gedanken in eine größere Welt hineinschreibt und -denkt, in philosophische und biblische Kontexte setzt, auch anderer Schriftsteller zitierend. Das macht die Lektüre anspruchsvoll – aber eröffnet dem denkenden Herz immer neue Horizonte.

AEEB: Du beschäftigst Dich schon lange mit dem Werk Hillesums – oder umgekehrt: es beschäftigt Dich schon lange. Was ist das, was Dich besonders anspricht?

Bühler: Was mich immer wieder fasziniert, ist, mit welcher Energie sie an das tägliche Schreiben geht. Angestoßen hat diese Schreibarbeit Julius Spier, Therapeut, Seelen- und Lebensbegleiter, mit dem Ziel, beobachtend-schreibend Ordnung in das Leben zu bringen – nicht, um das Leben fest-zuschreiben, sondern seine Vielfalt und Widersprüchlichkeiten erleb- und verarbeitbar zu machen. Auch die Sinnlichkeit und Sexualität der jungen Frau haben hier ihren Platz. Dabei entwickelt sie sich persönlich, das Schreiben wird zu einer Art geistlichen, spirituellen Lebensbegleitung, lässt in den Ambivalenzen des Lebens ein umfassendes Ganzes spüren, verstärkt durch die Lektüre etwa von Rilke, Jung, Dostojewski oder der Bibel. Immer wieder taucht, in allen Widersprüchen und allem Scheitern das Wort Harmonie auf. Und das macht sie stark für das Leben, wie es ist, schenkt ihr Resilienz für den Alltag. „Das mächtige Gehirn der Menschheit und das große Herz der Menschheit. … Ich empfinde es als ein einziges großes Ganzes und vielleicht deshalb doch ab und zu dieses große Gefühl der Harmonie und des Friedens, trotz der vielen Widersprüche.“ (17. Dezember 1941).

AEEB: Klingt das Schreibprojekt nicht nach Flucht aus der Wirklichkeit?

Bühler: Im Gegenteil. Sie nimmt ganz genau wahr, was geschieht, und bleibt so der Gegenwart und den Menschen verbunden. Deswegen geht sie in das Durchgangslager, liest und schreibt auch dort, aber um ganz dabei zu sein, Verantwortung zu übernehmen, zu helfen. So heißt es in einem Brief vom 25. August 1942 aus Westerbork: „heute Morgen habe ich ein bisschen im Mystiker Meister Eckehardt gelesen und WCs geschrubbt.“ Sie wird damit Teil der Leidensgemeinschaft des Lagers, findet hier ihre Wurzeln, ihre Verbundenheit, ihre Aufgaben und ihren Ort. Und entscheidet sich dann auch, nicht zu fliehen, sondern das „Massenschicksal“, welches das jüdische Volk erleidet, auf sich zu nehmen und mitzugehen ins Konzentrationslager. Sie will Chronistin ihrer Zeit werden – aber nicht aus der Distanz, sondern teilnehmend, anteilnehmend.

AEEB: Hillesum nimmt auf, was um sie und in ihr ist: Alltag und Traum, Sexualität und Literatur, Regenbogen und Kampf gegen Hass – und dazwischen kommt immer wieder Gott vor. Wie kommt Gott da hinein und welcher Gott ist es denn eigentlich?

Bühler: Zunächst kommt natürlich der Gott der jüdischen Glaubensgeschichte überraschend nahe, denn durch ihren Reifeprozess findet sie zu ihren jüdischen Wurzeln zurück. „Christien, ich schlage die Bibel an irgendeiner Stelle auf und finde das: ´Der Herr ist meine sichere Burg.´. Ich sitze mitten in einem vollen Güterwaggon auf meinem Rucksack. Vater, Mutter und Mischa sitzen einige Waggons weiter. Der Aufbruch kam doch ziemlich unerwartet …“ So die letzte Notiz auf einer Postkarte, die sie auf dem Weg nach Ausschwitz aus dem Zug wirft, damit sie gelesen wird. Dann aber ist es auch ein Gott der Philosophen und Theologen, der Psychologen und der Schriftsteller. Ob Mystik oder Psychologie: der Weg zum Selbst führt in die Mitte, zum Brunnen. „In mir drin ist ein sehr tiefer Brunnen. Und darin ist Gott. Manchmal ist er für mich erreichbar. Aber öfter liegen Steine und Schutt auf diesem Brunnen, dann ist Gott begraben. Dann muss er wieder ausgegraben werden.“ (26. August 1941) Es ist ein Gott, der da ist, in mir, in dieser Welt, ein Gott, zu dem man sprechen kann. Aber es ist auch ein schwacher Gott, von dem keine überraschende Rettung zu erwarten ist, kein deus ex macchina, sondern ein mitleidender Gott, um den man sich sorgen, dem man in sich Raum muss, damit er nicht verschwindet und der Mensch mit ihm.

AEEB: Wenn keine Rettung, was hilft es dann, zu beten und zu schreiben?

Bühler: Zunächst ist interessant, dass es da eine immer intensiver werdende Verbindung von Beten und Schreiben gibt. Am Anfang ihrer Schreibarbeit ist ihr das Schreiben so mühevoll und seltsam wie das Beten. Je mehr sie schreibt, desto sicherer wird sie: schreibend findet sie ihre Art, zu erkennen, was um sie vorgeht, ohne, dass sie darin untergeht. Ähnliches gilt für das Beten, also im Umgang mit Gott. Man kann sogar sagen: Beten und Schreiben werden zu Übungen, die Lust und die Lasten, das anvertraute Leben und den unverfügbaren Gott erlebbar zu machen. Schreibend-betend geht Hillesum auf Distanz und bleibt gerade so dem Leben verbunden, in der stets wiederkehrenden Grundüberzeugung, dass dieses leben schön ist, es wert ist, gelebt zu werden. Das rettet sie nicht davor, Opfer des Naziterrors zu werden, aber sie bleibt darin stärker als der Naziterror, weil sie den Tod nicht negiert, sondern mit ins Leben integriert. In allem Irrsinn verliert sie nicht den Humor, der befreit. “Mein Humor ist meine Widerstandskraft“, sagt sie an einer Stelle (4. Juli 1942)

AEEB: Kannst Du dafür ein Beispiel geben?

Bühler: Ein schönes Beispiel, gerade wenn es um Gott und damit um das Ganze geht, ist der Tagebucheintrag vom 22. Oktober 1941: „O Herr, gib mir am frühen Morgen etwas weniger Gedanken und etwas mehr kaltes Wasser und Gymnastik.“ Oder als den Juden das Radfahren verboten wird – ein Verbot, das Etty Hillesum besonders hart trifft, weil Radfahren als Ausdruck von Lebendigkeit und Anstrengung immer wieder in ihren Tagebüchern vorkommt – zitiert sie fröhlich zustimmend aus einem Brief ihres Vaters: „Heute ist hier das fahrradfreie Zeitalter angebrochen. Ich habe Mischas Fahrrad persönlich abgeliefert. … Wir müssen jetzt nicht mehr Angst haben, dass unsere Fahrräder gestohlen werden. Für unsere Nerven ist das bestimmt von Vorteil. In der Wüste mussten wir seinerzeit auch 40 Jahre lang ohne Fahrräder auskommen.“ (25. Juni 1942)

AEEB: Die Erinnerungskultur gehört zu einer zivilisierten Gesellschaft, damit auch Schmerz und Schuld der Vergangenheit nicht verschwinden, um die Gesellschaft sensibel zu machen. Was wäre in diesem Kontext das Besondere der Erinnerung an Etty Hillesum?

Bühler: Etty Hillesum hatte Lebensmut über den Tag und den Tod hinaus, in die Zukunft. „Wenn eine Spinne ihr Netz webt, wirft sie dann nicht die Hauptfäden voraus und klettert dann selbst hinterher? Der Hauptweg meines Lebens erstreckt sich schon ein ganzes Ende vor mir und reicht bereits in eine andere Welt hinein. Es ist gerade, als wäre alles, was hier geschieht und noch geschehen wird, schon in mir verrechnet, ich habe es bereits verarbeitet und durchlebt und beteilige mich bereits am Aufbau einer Gesellschaft nach dieser hier.“ (Brief vom 3. Juli 1943 aus Westerbork) An Etty Hillesum anknüpfen heißt hier, an ihren Fäden weiterklettern, Widerstand leisten, um so Zukunft zu erschließen. Hillesum wie unzählig viele andere mussten fliehen, wurden deportiert, starben auf der Flucht oder in Konzentrationslagern. An Hillesum zu erinnern heißt heute auch, an Menschen auf der Flucht zu erinnern, die zu Tausenden im Mittelmeer ertrinken, die nachts um 4.00 Uhr aus dem Bett geholt und in eine Zukunft ohne Überleben geschickt werden, an Menschenrechtsverletzungen zu erinnern, die auch durch demokratische Rechtsstaaten begangen werden.

Interview: Prof. Dr. Hans Jürgen Luibl (AEEB)

Einen Videoclip zur Veranstaltung „Progromgedenken 2022 in Forth mit Texten von Etty Hillesum“ von BildungEvangelisch Erlangen im Dezember 2022 finden Sie hier

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