AEEB Interview: Träume lebenswerter Quartiere – Räume lebendiger Kirchen

Kirche wird ärmer und kleiner, aber büßt sie damit ihre gesellschaftliche Rolle ein? – Keineswegs meint Dr. Hendrik Meyer-Magister (Studienleiter und stellvertr. Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing), der sich seit langem mit Thema „Quartiersarbeit“ beschäftigt. Die AEEB sprach mit ihm über die Wichtigkeit und die Chancen einer stärkeren Öffnung kirchlicher (Bildungs-)Einrichtungen in den Sozialraum.

AEBB: Lieber Hendrik, das Thema „Quartiersarbeit“ liegt dir nicht als Studienleiter der Evangelischen Akademie Tutzing (EAT), sondern auch als Pfarrer und Privatmensch sehr am Herzen. Was genau versteht man eigentlich unter diesem Begriff und warum ist diese Arbeit gerade auch für die kirchliche Erwachsenenbildung von so großer Bedeutung?
Dr. Hendrik Meyer-Magister: Ich bin mit dem eingeführten Begriff der „Quartiersarbeit“ eigentlich gar nicht so glücklich, denn er hat einen militärischen Hintergrund: römische Heerlager waren in Viertel – „Quartiere“ – eingeteilt. Ein anderer Begriff ist Gemeinwesenarbeit. Die Idee dahinter ist, dass Menschen in ihrem unmittelbaren Umfeld – man spricht dann auch von Sozialraum oder sozialem Nahraum – ihr Miteinander gemeinsam gestalten, füreinander Verantwortung übernehmen und Engagement zeigen. Zivilgesellschaftliche Institutionen und Initiativen beteiligen sich daran, vernetzen und ergänzen sich, um lebendige und lebenswerte Nachbarschaften zu ermöglichen und zu fördern. Ich glaube, dass auch in Zukunft Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen dabei eine wichtige Rolle zukommt. Denn noch ist Kirche parochial, d.h. „flächendeckend“ präsent. Gemeinden und diakonische Angebote liegen oft mitten im Viertel. Die Kirche steht vielerorts, ganz bildlich gesprochen, mitten im Dorf. Kirche und Diakonie genießen immer noch vergleichsweise viel Vertrauen in der Bevölkerung und wissen oft um Menschen, die gesellschaftlich leicht übersehen werden. Dazu kommt: Selbst die, die persönlich nicht mehr viel von Kirche erwarten, erwarten immerhin noch, dass Christinnen und Christen sich um andere kümmern, das hat zuletzt die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung gezeigt. Ich bin überzeugt: Gerade in Zeiten, in denen Kirche weniger Ressourcen zur Verfügung hat, gilt es, diese Ressourcen klug und im Zusammenspiel mit anderen zum Wohle der Menschen am Ort einzusetzen – gerade auch, um als Kirche nah bei den Menschen und gesellschaftlich sichtbar zu bleiben. Am Ende hat die Kirche in allen Zeiten und an allen Orten doch genau einen Auftrag: Im Geiste der Liebe Gottes durch Wort und Tat den Menschen, seinen Kindern, zu dienen. Die Frage Jesu an Bartimäus ist für mich die Kernfrage für die Orientierung kirchlich-diakonischer Arbeit: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?


AEEB: Wie können zivil-gesellschaftliche Akteure und die Menschen im Sozialraum zusammenkommen?
Meyer-Magister: Ich glaube, das lässt sich kaum pauschal beantworten. Der Beitrag der Kirche im Netzwerk eines lebendigen Sozialraums kann sehr unterschiedlich sein. Die Möglichkeiten, Talente und Leidenschaften der Gemeinden, Einrichtungen und Akteure sind sehr verschieden und auch die Bedarfe und Bedürfnisse der Menschen vor Ort. Niemand sollte meinen, etwas tun zu müssen, was er oder sie nicht leisten kann. Aber Niemand sollte auch etwas anbieten, was nicht gebraucht wird. Die Kunst ist hier Möglichkeiten und Bedürfnisse klug und im Dialog abzugleichen. Mir ist vor allem auch wichtig: Kirche muss sich von dem Gedanken verabschieden, alles selbst machen zu müssen. Vielleicht gibt es einen Akteur im Sozialraum, der ein Problem viel kompetenter bearbeiten kann. Wie kann Kirche diesen Akteur unterstützen? Ein Beispiel, da ich mich im vergangenen Programmjahr in Tutzing viel mit Demenz befasst habe: An- und Zugehörige brauchen Räume, in denen sie eine Pause von der anstrengenden Pflegesituation nehmen und sich austauschen können. Dazu müssen ihre dementiell veränderten Angehörigen betreut werden. Müssen Gemeinden, die hier ein Bedürfnis in ihrem Sozialraum erkannt haben, nun eigene Kurzzeitpflegen und Gruppen für An- und Zugehörige aufbauen? Häufig gibt es bei der Diakonie, aber z.B. auch bei der Alzheimer Gesellschaft, entsprechende Angebote. Aber vielleicht kann der Gruppe ein Raum im Gemeindehaus günstig oder gar kostenlos zur Verfügung gestellt werden? Das kann ein echter Beitrag sein! Räume sind überhaupt ein gutes Beispiel, was Kirche sehr leicht für die Gemeinwesenarbeit zur Verfügung stellen kann. In diesem Zusammenhang ist die Initiative #VerständigungsOrte der Evangelischen Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung (midi) in Berlin, die viel im Bereich Quartiersarbeit arbeitet, erwähnenswert: Kirchenräume und Einrichtungen in den Quartieren zu öffnen, damit Menschen sich jenseits der Echokammern begegnen. Im Übrigen berührt diese Idee auch die Akademiearbeit und Erwachsenbildung in ihrem Kern: Verständigungsorte zu sein, ist seit ihrer Gründung ihr Anspruch. Auch in der bayerischen Erwachsenenbildung gibt es bereits tolle Quartiersprojekte. Das Mehrgenerationenhaus der Evangelischen Familienbildung Bayreuth, das Bunte Haus in Miesbach oder auch das Wirkwerk in Weilheim, ein Anlaufpunkt für junge Familien, fallen mir spontan ein. Daran wird etwas weiteres deutlich: Quartiersarbeit geht alle an, gerade auch alle Generationen. Vom Miteinander können alle nur profitieren!


AEEB: Als wichtiger Akteur im gesellschaftlichen Diskurs und ständig auf der Suche nach Lösungen zu einem friedvollen Miteinander beschäftigt sich das Team der EAT seit vielen Jahren mit dem Thema „Quartiersarbeit“ – Welche Angebote bzw. welche Veranstaltungen haltet Ihr diesbezüglich bereit?
Meyer-Magister: In der Evangelischen Akademie Tutzing bieten wir seit Jahren die Tutzinger Quartierstagung an. Zunächst in Kooperation mit der Diakonie Bayern, seit 2022 dann auch in Kooperation mit der Landeskirche öffnen wir einen Raum für Anregungen und Reflexionen der kirchlich-diakonischen Quartiersarbeit. Seinen Ursprung hat die Arbeit im Bereich der Versorgung in der letzten Lebensphase genommen. Der Wunsch, daheim zu sterben und wie das möglich gemacht werden kann, waren hier ein erstes Thema. Zuletzt haben wir aber auch andere Fragen der Quartiersarbeit in den Blick genommen: 2022 hieß das Thema „Mensch, vernetzt dich!“ Es ging, coronabedingt online, aber thematisch dadurch hochaktuell, um Möglichkeiten der digitalen Unterstützung der Quartiersarbeit. 2024 haben wir dann nach dem Miteinander der Generationen gefragt, die Tagung hieß „Hey Alter!“ Viele gesellschaftliche Themen habe eine Komponente im sozialen Nahraum: So hat auf dieser Tagung Maria Lüttringhaus über Klimaschutz im Quartier referiert. Auch auf der mit vielen Leitungskräften aus Diakonie und Kirche besetzten Tagung „Kirche und Diakonie in der Zeitenwende“ im November 2023 wurde Quartiersarbeit als ein wichtiger Baustein der Zukunft benannt. Aber auch das Hospizgespräch, das wir alle zwei Jahre in Tutzing haben, kommt ohne die Frage nach der Sorge der Menschen in den Nachbarschaften nicht aus: caring communities, sorgende Gemeinschaften, werden gesucht und aufgebaut. Hospizgespräch und Quartierstagung werden in der ersten Jahreshälfte 2026 fortgesetzt.


AEEB: Das Jahr 2024 neigt sich zum Ende und deshalb noch ein kurzer Blick nach vorn: Was denkst Du wird in Zukunft entscheidend sein, um die Sozialraumorientierung kirchlicher (Bildungs-)Einrichtungen auszubauen und zu stärken?
Meyer-Magister: Eines will ich vorab betonen: viele Gemeinden und Einrichtungen leisten hier bereits tolle Gemeinwesenarbeit und sind bereits weit auf dem Weg gegangen, den ich hier nur skizzieren kann. Wichtig ist, dies bei allen Kürzungsrunden sogar noch zu stärken, Die Zukunft der Kirche liegt außerhalb, nicht innerhalb ihrer Mauern. Entscheidend wird eine Haltungsfrage sein: Lassen wir uns als Kirche, die „schrumpft“, von Angst leiten und versuchen lediglich zu bewahren, was wir einmal hatten. Oder öffnen wir gerade jetzt mutig die Tore und Türen, lassen die Menschen um uns herum herein und gehen selbst hinaus auf die Straßen und Plätze der Viertel und Orte, um mit den Menschen neu ins Gespräch zu kommen: Was ist im Sozialraum schon da, was braucht es noch, was können wir beitragen? Was willst Du, dass ich Dir tun soll?

Interview: Sabine Löcker (AEEB)

Zur weiteren Info
Link zur Website der Evangelischen Akademie Tutzing hier

„Klimaschutz- eine generationenübergreifende HINAUSforderung“ – Ein Gast-Beitrag von Maria Lüttringhaus (Expertin für Quartiersarbeit und Sozialraumorientierung) zum Thema „Sozialraumöffnung“ hier

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